13.02.19
Tickets „mir scheint ich bin vorläufig / aber was / läuft nach?“, Mit Franziska Thun-Hohenstein und Irina Rastorgueva in Berlin
Brecht-Tage 2019

„mir scheint ich bin vorläufig / aber was / läuft nach?“ Mit Franziska Thun-Hohenstein und Irina Rastorgueva 13.02.19 in Berlin, Literaturforum im Brecht-Haus

Mittwoch 13.02.19
Einlass: 19:00, Beginn: 20:00
Literaturforum im Brecht-Haus, Chausseestr. 125, 10115 Berlin

Tickets – „mir scheint ich bin vorläufig / aber was / läuft nach?“ Berlin


Informationen

****

Auch bei „Ausverkauf“ und nach Ende des Verfügbarkeitszeitraums der Online-Tickets gibt es weitere Eintrittskarten an der Abendkasse, die in der Regel jeweils eine Stunde vor Veranstaltungsbeginn öffnet.

****


Vorträge und Diskussion

Mit Franziska Thun-Hohenstein und Irina Rastorgueva


Ästhetische Distanztechniken bei Warlam Schalamow und Bertolt Brecht

Franziska Thun-Hohenstein, Vortrag


Warlam Schalamow (1907-1982), dessen „Erzählungen aus Kolyma“ über die Geschehnisse in den Lagern am Kältepol der Erde erst in jüngster Zeit die ihnen gebührende Anerkennung fanden, bezieht sich mehrfach auf Brecht. Hinter jeder Nennung steht die Wertschätzung für Brechts Suche nach neuen dramatischen Ausdrucksformen, die das Erkenntnispotential des Theaters in Zeiten der Extreme schärfen. Blickt man auf Schalamows eigene ästhetische Programmatik, so rücken die Positionen beider – jenseits der Frage nach einem direkten Einfluss – in eine bisweilen überraschende Nähe. Zuletzt sichtbar u.a. in der Münchner Inszenierung „Am Kältepol“ von Timofej Kuljabin, der Schalamows Erzählungen für die Bühne bearbeitet hat.

„Ästhetische Distanztechniken bei Schalamow und Brecht“ sind eine collageartige Spurensuche, die Spannungen aufscheinen lässt und einen Echo-Raum eröffnet: Einerseits geht es um die Tradition des russischen Agitproptheaters „Die blaue Bluse“, für das sich der junge Schalamow in den 1920er Jahren begeisterte und dessen künstlerische Prinzipien Brecht aus seiner Sicht verallgemeinert habe. Andererseits geht es um Schalamows Faszination für Brechts Abkehr vom Theater der Einfühlung, von der Ästhetik des Sozialistischen Realismus, die „den Terror unter dem Erbarmen, die Lagerkälte unter der humanistischen Wärme“ versteckte (J. Rancière). Schalamows Bruch mit der herkömmlichen realistischen Literaturtradition geschah vor dem Hintergrund des im Lager Durchlebten. Er suchte nach ästhetischen Distanztechniken, um über den Menschen in einem Raum zu berichten, in dem das „Minimalprogramm der Humanität“ (W. Benjamin) außer Kraft gesetzt ist.  Die Berührungspunkte zwischen den Denkhaltungen beider sind evident und für die aktuelle Rezeption ihrer Texte (insbesondere Schalamows) jenseits des rein thematischen Moments zu erarbeiten.


Brecht#Platonow, eine unerwartete Osmose 

Irina Rastorgueva, Vortrag


Andrei Platonowitsch Platonow und Eugen Berthold Friedrich Brecht wurden 1898 mit einer Differenz von sechs Monaten geboren; der eine als zehntes Kind eines Lokomotivführers im westrussischen Woronesch, der andere als erster von zwei Söhnen eines aufsteigenden Prokuristen einer Papierfabrik in Augsburg am Lech. Beider Mütter arbeiteten im Haus, Brechts Mutter unterstützt von einer Magd. Brechts Großvater mütterlicherseits war Eisenbahner – so viel familiäre Gemeinsamkeit war vorhanden. Beide, Brecht und Platonow, erlebten Beginn und Zusammenbruch der Vorkriegsmoderne-Kultur, den Ersten Weltkrieg, Revolutionen. Beide sahen mit staunenden Augen elektrische Lampen aufleuchten und Flugzeuge fliegen. Beide liebten, ein Auto zu fahren, Brecht konnte sich eins leisten. Beide waren fasziniert von der kommunistischen Idee, beide wurden im bzw. vom Sowjetstaat enttäuscht. Beide waren zur Emigration gezwungen, Platonow blieb nur die innere. In ihren Werken sind soziale Probleme von der Absurdität der Situation durchsetzt, die Realität ist prall grotesk und nie tragisch, ohne komisch zu sein. Beide waren ästhetisch unbedingte Erneuerer. Brecht konnte seine Erfolge wahrnehmen, seine Experimente wo nicht selber, von anderen probieren lassen. Platonow starb fünf Jahre vor Brecht, der 1955 den Stalin-Friedenspreis in Moskau entgegennahm, von dem sein sowjetischer Kollege nicht geträumt haben dürfte. Für tiefergreifende Rezeption war Platonow auf sein Nachleben angewiesen. Die Texte aus den Stücken – auch Platonow war Dramatiker, sogar Drehbuchautor – sind mitunter derart ähnlich, die Dialoge erschreckend deckungsgleich, dass es für Nichtexegeten teilweise schwierig ist, zu sagen, welcher Autor den Figuren ihre Dialoge in die Münder schrieb. Und dennoch haben sie sich nie getroffen, auch als Leser dürften sie sich nie begegnet sein – zumindest Brecht Platonow nicht.